CASA GREI  
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Valle Onsernone

 

Casa Grei

 

Historisches

Der alte Teil des Hauses stammt ungefähr von 1730. Der gartenseitige Eingang zur Bibliothek war Haupteingang. Dies ist – den neuen Hausteil einmal weggedacht – eine Symmetrie mit links und rechts je einem Fenster. Im Sopraceneri waren die Häuser früher wegen der Hanglage turmartig konzipiert, mit einem Stall zuunterst, Küche und Kamin im Erdgeschoss, den Schlafräumen im ersten Stock und dem Dachboden (für die Heulagerung) zuoberst. Die Eingänge zu den Stockwerken kamen immer von aussen; Indoor-Stiegenhäuser, wie man sie heute kennt, gab es nicht. Die langen Balkone sind typisch für das obere Onsernonetal. Man verwendete sie, um Maiskolben und Maisstroh zu trocknen. Auf alten Fotos sieht man, dass das Land rund um das Dorf über weite Flächen terrassiert war. Je steiler das Terrain, umso höher mussten die Mauern sein, um dahinter eine waagrechte Fläche zu gewinnen. Es wurde hauptsächlich Mais angepflanzt, daneben lebte das Tal von der Strohflechterei und geringfügiger von der Schaf- und Ziegenzucht. Im Winter ernährte man sich grösstenteils von Mais und Marroni. Das Kaminfeuer war Heizung, Lichtquelle und Kochherd zugleich.

Der vordere, neuere Teil stammt aus dem Jahr 1796. Das Jahr ist als Inschrift über dem Haupteingang und auf dem alten Kaminstein sichtbar, der jetzt im Garten steht. Wer war der Architekt? Die Initialen "F. N." über dem Haupteingang weisen auf einen der Namen Notaris oder Nizzola hin. In der Garderobe steht eine grosse Kiste mit denselben Initialen, sie war seit jeher im Haus. Man geht davon aus, dass Berzona zum Ende des 18. Jahrhunderts ca. 250 Einwohnern hatte. Von daher ist es naheliegend, dass in der Casa Grei (ausgebaut) ungefähr 20 Personen miteinander lebten.

Die letzten – uns namentlich bekannten – Bewohner des Hauses vor der Übernahme waren Dionigi und Diomira Schira, zwei aus einer kinderreichen Familie übriggebliebene Geschwister. Sie hatten die spanische Grippe 1918 überlebt, ihre Geschwister waren daran gestorben oder hatten in andere Ortschaften geheiratet. Ihre Eltern hiessen Carlantonio und Carolina Schira. Carolina verunglückte an einem Sonntag, als man wie immer die Tiere frühmorgens im Dunkeln den Talweg zum Markt nach Locarno hinabtrieb. Sie war im steilen Gelände gestürzt. Vater Carlantonio, der die Steuer schuldig war, wurde vom Steuereintreiber informiert, man würde ihm einen Teil seines Grundstücks wegnehmen, worauf er an einem Herzinfarkt starb.

Sein Sohn Dionigi, vom Militär als zu klein und damit als dienstuntauglich eingestuft, zog nach Frankreich, wo er eine Ausbildung zum Hilfsschreiner machte. Von ihm war im Haus später noch zahlreiches Tischlerwerkzeug zu finden. Er lebte nach seiner Rückkehr ins Dorf als Schreiner. Weil er aber die Dienstuntauglichkeit nie verkraftet hatte, bastelte er sich aus Militärkleidern eine eigene Uniform und stand jeweils am 1. August mit einer Fantasiefahne und einer Flasche Chianti auf der Piazza, exerzierte und trank. Nach einer anderen Geschichte, die man sich später erzählte, stand er nachts auf dem Balkon der Casa Grei und brüllte Reden an das Volk.

Viel später, als mein Vater das Haus bereits übernommen hatte, kam eine Gruppe von Studenten der Filmhochschule Frankfurt ins Dorf und erkundigte sich, ob dies das Haus sei, wo der Mann nachts vom Balkon „die Rede an die Welt“ gehalten habe. Dies war so von Max Frisch an der Hochschule in Frankfurt kolportiert worden.

Die beiden Geschwister mochten einander nicht. Dionigi war Alkoholiker, Diomira hatte Polyarthritis. Sie besass einen primitiv gefertigten Rollstuhl, den mein Vater bei den Renovationsarbeiten im Haus vorfand. Dionigi hatte in einer boshaften Aktion die Schrauben des Balkongeländers entfernt, und als Diomira sich am Geländer anlehnte, stürzte sie hinab, „come un aeroplano“, so berichtete uns Enrico Regazzoni. Wie ernsthaft sie sich dabei verletzte, ist nicht überliefert. Sie rächte sich jedoch, indem sie einzelne Fenster aushängte und ebenfalls den Hang hinunterwarf. Die Zeit der beiden in der Casa Grei muss irgendwann geendet haben, denn dass sie zuletzt im Altersheim in Loco untergebracht waren, ist überliefert.

Das Haus wird gerne als ehem. Schulhaus bezeichnet; diese Funktion hatte es allerdings nur sehr kurzDas Haus wurde ca. 1919 für ungefähr ein Jahr effektiv als Schule benutzt, nachdem die Casa Comunale durch einen Brand Schaden erlitten hatte. Es steht aus dieser Zeit noch ein Schulbänkchen auf dem Dachboden. 


Aller Anfang ist schwer

1977 hörte mein Vater von einem Haus, das im Onsernonetal zu kaufen sei. Die Familie Kiepenheuer hatte - noch vor Max Frisch und Alfred Andersch - im Dorfkern bereits ein Haus erworben und vermittelte meinem Vater die Casa Grei, zu diesem Zeitpunkt in einem verwahrlosten Zustand: Völlig verdreckt und angeräumt mit Abfall und kaputten Möbeln, die Böden teilweise mit Stroh bedeckt, alles staubig und zerfallen. Die Türen waren undicht, die Fenster eingeschlagen, die Matratzen aufgeschnitten - man hatte jahrelang ungehindert ins Haus eindringen können. Es gab eine einzige Glühbirne und einen Kaltwasserhahn. Der untere grosse Raum bestand damals noch aus zwei Räumen, der obere grosse Raum war dreigeteilt mit zwei gefangenen Zimmern (diese Wände wurden später alle entfernt). Der Garten war jahrelang nicht mehr gepflegt worden und bot ein Durcheinander an einstürzenden Mauern, Efeu, Brombeerranken und Brennesseln.

Meinen Vater faszinierte das Haus trotz seines schlechten Zustands. Marta Regazzoni, die damalige Besitzerin, verlangte dafür CHF 100‘000. Die Leute im Dorf spotteten, der Preis für das Haus sei viel zu hoch.

Kaspar Kiepenheuer übernahm vorerst das Erdgeschoss, mein Vater den oberen Stock. Jedes freie Wochenende wurde am Haus gearbeitet. Es gab Unzähliges zu entsorgen, jedoch war man bemüht, alles mit historischem Wert zu erhalten. Erste Arbeiten waren Plastikfolie auf dem Dachboden auslegen, Dachpappe anbringen und Eimer im Hausinneren aufstellen, damit der eindringende Regen nicht noch mehr zerstörte. Türen und Fenster wurden nach und nach ersetzt. Ich war vier Jahre alt, als ich in den morschen Holzboden einbrach.

 

Zuerst standen nur 5 Ampère für das ganze Haus zur Verfügung, die Sicherung wurde aber bald erweitert, da man zum Arbeiten und Heizen viel mehr Strom brauchte. Unsere ersten Betten waren Feldbetten mit einer dünnen Auflage von IKEA zu 39 Franken. Wir schliefen zu fünft im heutigen Kinderzimmer auf diesen IKEA-Feldbetten. Das Licht kam aus Petroleumlampen und von Kerzen. Ein alter Tisch war noch brauchbar, dazu kamen Metall-Klappstühle. Man empfand es als grossen Luxus, endlich wenigstens diese paar Dinge zu haben.

Aus zwei alten Waschbecken und einer Holzplatte wurde ein simpler Waschtisch zusammengebaut, dazu gab es einen Kübel Wasser, mit dem man sich wusch. Ein Klo gab es vorerst nicht, man ging in den Wald. Das Abwasser wurde gefangen in einer Klärgrube unter der unteren Wiese (fossa biologica). Eine reguläre Kanalisation erfolgte erst viel später.

Die Schwierigkeiten, ein Haus zu teilen, zeigten sich bald. Kaspar Kiepenheuer wollte das Haus für therapeutische Zwecke nutzen. Man entschied, dem deutschen Architekten Daniel Guttchen (1929 - 2019Teatro Dimitri und Casa 522 in Verscio) einen Umbau-Auftrag zu geben. Im ersten Jahr wurde also viel geplant, die beiden Besitzer des Hauses zerstritten sich aber zunehmend. Mein Vater schlug vor, dass nur einer das Haus besitzen solle, und so verkaufte Kiepenheuer schliesslich seinen Anteil an meinen Vater.

Der Architekt organisierte ein Blechhäuschen, das man auf die heutige Terrasse stellte - eine Art Toilette. Ich erinnere mich an den Gestank und an die Spinnen, die sich an den Innenwänden niederliessen. Wir Kinder verabscheuten das Häuschen, vor allem nachts. Ich stand vor allem mit den Spinnen auf Kriegsfuss - das ist heute zum Glück besser geworden.

Den Umbauarbeiten ging die Statik, ein Stahlgürtel, der das Haus bis heute zusammenhält, voran. An der Vorderseite des Hauses goss man zur Stabilisierung Fundamente. Danach wurden die gesamte Elektrizität, beide Nasszellen sowie Bodenheizungen eingebaut. Immer mehr Zimmer wurden nach und nach bewohnbar, als letztes folgte die rote Bibliothek.

Die Leute im Dorf schätzten es, dass unser Vater vieles selber restaurierte, und so gewann er bald ihre Sympathie. Auch mein Onkel Christoph Langegger aus Wien unterstützte uns während unzähliger Aufenthalte vor allem mit Maurer- und Holzarbeiten. Unser Vater arbeitete immer bis tief in die Nacht, und wenn wir Kinder beim Frühstück sassen, war er bereits wieder auf der Baustelle. Er klagte oft über Rückenweh, da er die 50kg-Zementsäcke vom Kirchplatz bis zum Haus alleine hochtrug. Zu zweit trug man mithilfe von Traggurten auch die Schwedenöfen hinauf. Hin und wieder wurde Baumaterial per Helikopter auf der Wiese abgeladen, aber solche Einsätze waren damals vergleichsweise teuer. 

Das undichte Dach blieb ein Dauerthema. Mein Vater kletterte, teilweise bei strömendem Regen und Gewitter, darauf herum, um Dachpappe anzubringen. Mit dem Wagenheber veränderte er die Neigung einzelner Steinplatten, um die undichten Stellen zu finden und zu beheben. Ich kann mich gut erinnern, dass wir Angst hatten, er könnte vom Dach stürzen. Zum Glück ist nie etwas passiert. Auch der lokale Dachdecker Franco Varini führte während vielen Jahren  Aufträge aus. Im Jahr 2005 war das Dach endlich fertig und wir gehen davon aus, dass es wieder 200 - 300 Jahre hält. Die Tessiner sagen: Das Fundament des Hauses ist das Dach.

Mein prägnantesten Erinnerungen an diese frühen Jahre in Berzona sind vor allem diese: Es gab in den Schulferien nichts anderes als ... Berzona! Das Haus war und blieb eine Baustelle und wir Kinder hätten oft Lust gehabt auf Ferien woanders. Wir kamen oft nachts an, was ich als sehr ungemütlich in Erinnerung habe. Während der Autofahrt schon eingeschlafen, taumelten wir mit dem Gepäck bis zum Haus hinauf, wo wir frierend in eiskalte Betten schlüpften. Die Umbauarbeiten erzeugten viel Staub, der sich immer wieder auf sämtlichen Möbel niederlegte, was vor allem unsere Mutter zur absoluten Verzweiflung brachte. Insgesamt ging es in den Jahren 1977 bis 1997 darum, das Haus dicht, beheizbar, wohnlich und gemütlich zu machen. Auf den diversen Baustellen im und ums Haus spielten wir und waren, bis auf gemeinsame Mahlzeiten mit den Eltern, weitgehend uns selbst überlassen. 

Weiter erinnere ich mich an die letzten Einheimischen, deren Italienisch mit starkem Tessiner Dialekt wir Kinder nicht verstanden, die uns aber immer mit zahnlückigen Mündern anlächelten. Wir gingen täglich zu Marta Regazzonis Krämerladen, wo wir neben den Grundnahrungsmitteln natürlich Süsses kauften. Der Bach war für uns das Grösste; wir blieben im eiskalten Wasser, bis die Lippen blau waren und die Zähne klapperten. Nach dem Abendessen gingen wir hinauf zur Kapelle oder hinunter auf die Piazza, wo wir uns mit anderen Kindern und auch später als Jugendliche trafen. Diese Tradition besteht übrigens bis heute! 

Die Casa Grei war immer ein offenes Haus. Die warmherzigen, grosszügigen, gastfreundlichen und umsorgenden Eigenschaften unserer Mutter bleiben bis heute unserem gesamten Freundeskreis in Erinnerung und wir bemühen uns, diese Tradition fortzuführen.